Andere haben länger gebraucht. Bei Roy Lichtenstein war die Sprintstrecke vom Enfant terrible zum mil- fant fl ionenschweren Klassiker gut überschaubar. Während man in Europa noch rätselte, wie wohl die abgemalten Comics in den Kanon einzubauen wären, hatte ihn Amerika längst ans kunstbetriebliche Herz gedrückt. Und Leo Castelli, legendäre Galeristenspürnase der Sechzigerjahre, nahm den jungen Maler in seinen poppigen Edelpferdestall auf. Von da an ging’s stetig aufwärts. Und heute betritt man die noble Villa am Salzburger Mirabellplatz, und Thaddaeus Ropac, legendäre Galeristen-Spürnase mit untrüglicher Witterung für die Bluechips, nickt und sagt, ja doch, zwölf Millionen sei das schöne Bild „Artemis und Acteon“ aus dem Jahr 1987 schon wert.
Pop-Art, die Parole der kulturkämpferischen Generation. Nach der Palastendlich die Hüttenkunst. Was sollten sie anderes sein, Roy Lichtensteins Bilder, als schierer Hohn auf die Kathedralen- Stimmung des abstrakten Expressionismus? Ausgerechnet die bildungsbürgerlich tabuisierte Heftchen-Kultur plusterte und spreizte sich und nahm im Handstreich den Wandplatz ein, der bis dato den erhabenen Farbräumen und gnadenlosen Protokollen seelischer Erschütterungen reserviert war. Mit List und Spaß am Kopfschütteln zoomte Lichtenstein die populären Banal-Bilder ins galerientaugliche Format.
Dabei ist ein wenig übersehen worden, dass es dem amerikanischen Maler bei allem offensichtlich ironischen Kalkül doch im ganz alteuropäischen Sinn um malerisches Nachdenken ging. Vielleicht wird das ja erst heute im Abstand und Rückblick auf das mit dem Tod 1997 abgeschlossene Werk vollends deutlich. aJedenfalls erscheint viel entscheidender als der bildnerische Aufstand gegen die triumphalistischen Abstraktionen nunmehr die Intelligenz, mit der Lichtenstein von seinen Anfängen an auf die mediatisierte Wirklichkeit reagiert hat. Man kann dies sehr genau in der Salzburger Schau beobachten, die, was Idee, Konzeption und Umfang anbetrifft, auch einem renommierten Museum zur Ehre gereichen würde. Thaddaeus Ropac konzentriert sich ganz auf die sogenannten „Brushstrokes“, ein ikonisches Thema, das zeitgleich mit den „Comics“ entwickelt worden ist und dem Maler über all die Jahrzehnte hin als lustvolles Experimentierfeld diente.
Der Pinselstrich, das, was Malerei in n uce ausmacht, was Farbe erscheinen lässt, was ihr Form und Bedeutung gibt was sie im Gestus emotional auflädt und zum Ausdrucksmittel malerischer Gestimmtheit macht – das alles reduziert Lichtenstein zum gegenständlichen Motiv. Wobei der gemalte Pinselstrich eben kein gemalter Pinselstrich, sondern ein konstruierter ist, einer, der aus präzisen Schraffuren zusammengesetzt nur so tut, als sei da mit breiter Bürste und seelischem Brio Farbe verteilt worden. Auch dort, wo er vermeintlich handschriftlich malt, ist genau besehen jede Strichkrümmung nach Plan. Das handschriftlich Gestische ist dem Repertoire handschriftlicher Gesten entnommen, und sein Bildauftritt ist nicht weniger frech als das Sprechblasenpersonal der Comic-Bilder.
Das war ja schon in den Sechzigern ganz schön raffiniert und im Grunde die noch viel coolere Antwort auf den abstrakten Expressionismus. Erst recht doppelbödig sind die Bilder geworden, als Lichtenstein begann, echte und simulierte Pinselstriche zu mischen. Vor einem Bild wie „Woman II“ (1982), das auf de Koonings verstörende Figurenbilder anspielt, könnte man kaum mehr sagen, was unmittelbare malerische Gebärde und was rekonstruierende Nachahmung, also aufgehaltener, zerlegter, entworfener „Brushstroke“ ist. Wenn man wollte, könnte man im Hause Ropac veritable Philosophieseminare über die Wirklichkeit des Abgebildeten und die Wirklichkeit der Abbildung halten.
Mehr Spaß macht es, sich in der zeichnerischen, malerischen und skulpturalen Werkstatt umzusehen und festzustellen, Wdass Lichtenstein doch nie etwas anderes gemalt hat als Bilder nach Bildern. Kaum einmal haben seine Bilder einen anderen Weltbezug behauptet als den immer schon vermittelten. Ob er sich aus Comics bedient hat, aus der Werbung, dem Kino, von Plakatwänden oder ob er Kunststile, Klassiker der Kunstgeschichte anverwandelt und abgewandelt hat, sein Ausgangspunkt war allemal das Bild, das zum Standard, zur Konvention, zum Typ gewordene Bild.
Es ist nicht falsch, wenn man den Maler als selbstbewussten Traditionalisten beschreibt. Auch wenn der antikünstlerische Schliff des Werks einer fernen Duchamp-Regie geschuldet sein mag, zum Bilderstürmer ist Lichtenstein nicht geworden. Anders als bei Robert Rauschenberg haben seine Bilder zu keinem Zeitpunkt den Ausstieg aus dem Bild, die Bildüberschreitung geprobt. Kritisch ist Lichtensteins Kunst, indem sie den Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess problematisiert, nicht aber, indem sie Gattungen sprengt und tilgt. So spielt die Brillanz von Lichtensteins Linie zugleich auf die technische Kontur der reproduzierten Vorlage an wie auf die überaus verehrten Linien- Perfektionisten – allen voran Picasso.
Picasso habe seine Arbeit maßgeblich beeinflusst, hat der Künstler rückdenkend bekannt. Und etwas verschämt hinzugefügt: „Wenn Picasso das wüsste, würde er sich wahrscheinlich im Grabe wu mdrehen. Aber so war’s.“
Zumindest dem großen Spieler Picasso hat Lichtenstein anteilnehmend über die Schultern geschaut. Und Spiel heißt ja auch: Alles steht zur Wiederverwertung zur Verfügung, alles darf in der Paraphrase wiederauferstehen. Und so paraphrasiert der Spieler Lichtenstein all seine lieben Kollegen: van Gogh, Matisse, Léger, Schlemmer. Malt antikisch, malt Bauhaus-modern, malt sein Leben lang Bilder, die den Meister Cézanne nicht auf den Kopf, die ihn auf die Füße stellen wollten: „Ich finde, seit Cézanne ist die Kunst außerordentlich romantisch und unrealistisch geworden, sie nährt sich nur von sich selbst, ist utopisch. Sie hat immer weniger mit der Welt zu tun, betreibt Nabelschau. Drau- Wß en ist die Welt, sie existiert. Die Pop- Art blickt in die Welt hinaus; irgendwie akzeptiert sie ihre Umgebung, die weder gut ist noch schlecht, nur anders – eine andere geistige Haltung.“
Wobei solches „draußen ist die Welt“ immer eine Blickrichtung war, die ihren wahren, einzigen Ort drinnen hatte. Alles passiert im Atelier. Der Maler sieht dem Pinsel zu, wie er eine Spur auf die Leinwand schreibt, wie sich ein Farbspritzer ausbreitet und in Tröpfchen zerspellt. Dann malt er eine Pinselspur und einen Farbspritzer und hängt das Bild „Brushstroke and Splatter“ an die Wand und malt die Wand, an der das Bild „Brushstroke and Splatter“ hängt. Lichtenstein kennt die Welt nur aus zweiter Hand, medial vermittelt. Wenn er das Fenster aufmacht, sieht er draußen keine Landschaft, sondern lauter Bilder von Landschaften. Also macht er das Fenster gleich wieder zu und malt Bilder nach Bildern nach Bildern.
Malt „Artemis und Acteon“, die sommerlich leuchtende Reanimation des ovidschen Mythos. Was soll’s, dass die nackte Göttin nicht gerade zu den begehrenswertesten Geschöpfen der Bildkunst zählt. Was spielt’s für eine Rolle, dass der Hirsch, in den der neugierige Knabe verwandelt worden ist, ein bisschen töricht aus den Zweigen schaut. Das Ganze ist doch nichts anderes als ein „Brushstroke“-Fest, ein blühender Garten voller gesehener und imaginierter Arten. Malerei, virtuos skizzierend und voller Bedacht zugleich. Klar, dass üppig blühende Gärten ihren Preis haben. Zwölf Millionen Dollar. Wenn es Picasso wüsste, nicht einmal dann würde er sich wim Grabe umdrehen.
„The Loaded Brush“, bis zum 28. September, Galerie Thaddaeus Ropac, Salzburg