Anselm Kiefer: "Bei mir brennt der Fels"
Der Maler und Friedenspreisträger Anselm Kiefer über letzte Geheimnisse und die Kirche als dadaistisches Phänomen

Klaus Dermutz, Die Welt, 30 July 2008, Visit external site

Die Welt:

Herr Kiefer, Sie werden im Oktober als erster bildender Künstler mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Fragen von Krieg und Frieden spielen in Ihrem Werk eine große Rolle. Sie haben 2003 für Klaus Michael Grübers Burgtheater-Inszenierung von "Ödipus in Kolonos" den Raum und die Kostüme entworfen. Ist der Friede ein Geschenk der Götter, wie es in Sophokles' Stück heißt?

Anselm Kiefer:

An die Götter glauben wir nicht mehr. Aber wir denken an das, was dem Glauben an die Götter verwandt ist, nämlich an die Mythologie. Einer, der Großes bewirkt hat, der ohne Krieg und Gewalt sehr mächtig wurde, nämlich Gandhi, hat um die Kraft der Mythologie gewusst. Er ist in einem langen Marsch, an den sich täglich mehr und mehr Menschen angeschlossen haben, zum Meer gezogen, um dort Salz zu gewinnen. Dies war nicht nur ein Protest gegen das Monopol der Engländer, sondern eine Fortsetzung der Mythologie Land-Meer, Behemoth-Leviathan.

Sie zeigten 2005 in der Salzburger Galerie Thaddaeus Ropac die Ausstellung "Für Paul Celan", in der Skulpturen mit Bleibüchern zu sehen waren. Welche Bedeutung hat der Friede in Celans Denken?

Kiefer:

Celan war vor allem Opfer. Seine Eltern und Verwandten sind von den Nazis ermordet worden.

Wie ist es in Ihrem Schaffen zu der Hinwendung zur Gottesmutter Maria gekommen? Sie zeigen in Salzburg nun die Ausstellung "Maria durch ein Dornwald ging". Sie haben sich sehr stark mit der Gnosis und der jüdischen Mystik beschäftigt.

Kiefer:

Die Maria hat mich durch die gesamte Jugend begleitet, sie war sehr wichtig in der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Die Maienandachten kommen mir in den Sinn. Die Altäre sind im Mai mit sehr vielen Blumen geschmückt. Es roch richtig betörend. Das Lied "Maria, breit den Mantel aus ..." spielt sehr auf die Sinne und das Körperliche an. Mit dieser sensuellen Prägung bin ich aufgewachsen, sie ist meine Kindheit, meine Vergangenheit. Wenn Sie die Gnosis und die jüdische Mystik ansprechen, so ist Maria das Gegenteil davon. Die jüdische Mystik ist ziemlich abstrakt.

Maria erscheint der Engel Gabriel, er verkündet ihr, dass sie empfangen wird. Der Engel sagt ihr auch, wie der Name des Kindes lautet.

Kiefer:

Das Kind besteht schon fast vor der Verkündigung. Was mich heute, abgesehen von den biografischen Prägungen, an Maria sehr interessiert, sind die Dogmen. Es gibt vier Marien-Dogmen. Das letzte Marien-Dogma stammt aus dem Jahr 1950, Mariä Auffahrt mit Leib und Seele in den Himmel. Das Dogma der jungfräulichen Geburt und der jungfräulichen Empfängnis stammt aus dem 19. Jahrhundert, als man schon wusste, woher die Kinder kommen. Ich fand es von der katholischen Kirche immer tollkühn, ein solches Dogma zu verkünden - eine derartige Herausforderung des gesunden Menschenverstandes. Es hat etwas Künstlerisches, eine Behauptung aufzustel- len, die völlig unhaltbar ist. Diese Behauptung hat mich immer fasziniert. Ich würde fast sagen, das ist wie Dadaismus. Das ist verrückt, das ist wirklich verrückt. Mein Interesse ist das Künstlerische, das Verrückte in der Behauptung. Ein Künstler behauptet etwas, die Mythologie behauptet etwas, ohne es beweisen zu können. Ich beschäftige mich mit dem, was ich habe. Ich beschäftige mich mit dem, was ich bin. Ich bin ein Mensch, dem die Gottesmutter Maria erschienen ist. Sie ist mir als Nazarenerfigur erschienen. Ich glaube, ich war sechs oder sieben Jahre alt, vielleicht auch schon acht.

Hatten Sie unmittelbar vor der Erscheinung gebetet?

Kiefer:

Nein, Maria erschien mir eines Morgens. Es war nicht im Traum, ich war schon wach. Die Erscheinung ereignete sich in dem Zimmer, in dem ich schlief. Ich kann Ihnen genau sagen, wie Maria bekleidet war. Sie hatte ein helles, beiges, blaues Kleid an. Es war exakt die Erscheinung eines Präraffaeliten- oder Nazarener-Bildes. Ich würde heute kitschig dazu sagen. Maria hat nicht zu mir gesprochen, sie hat gelächelt.

Hatte Maria in Ihrer Erscheinung einen Sternenkranz?

Kiefer:

Nein, es war ein Leuchten um ihr Haupt, aber sie hatte keinen Sternenkranz. Das wäre das direkte Abbild einer Darstellung gewesen, denn Maria wird oft mit Sternen dargestellt. Maria steht auch auf dem Mond. Bei Maria tritt eine Unterbrechung in Kraft. Das Zeitalter, das bis dahin gewirkt hat, wird abgeschlossen, und ein neues beginnt. Zum ersten Mal wird dadurch die Erbsünde überwunden. Darin ist ein utopisches Potenzial enthalten. Die Erbsünde war nötig, weil man in der christlichen Theologie nicht die Übel der Welt erklären konnte. In der jüdischen Mystik wird die Welt anders erklärt. Natürlich konnte die Jungfrau Maria, die Gott gebiert, nicht die Erbsünde haben. Das war eine Außerkraftsetzung der Theodizee, der Erklärung der Welt.

Die Frage der Theodizee lautet: Wenn Gott gut und allmächtig ist, woher kommt dann das Leid?

Kiefer:

Das ist die Frage überhaupt: Es ist die Linie von Adam bis zu Christus, der diese Linie überwindet - von der Geburt in der Erbsünde bis zu ihrer Überwindung. Es ist eigentlich eine doppelte Unterbrechung, denn die alttestamentliche Theologie ist eine abstrakte: Ich bin, der ich bin.

Oder wie es in einer anderen Übersetzung heißt: Ich bin, der ich sein werde.

Kiefer:

Diese Übersetzung ist jedoch weniger radikal. Denn "Ich bin, der ich bin" ist eine zynische Antwort. Jemand fragt, wer bist du, und erhält die Antwort: "Ich bin, der ich bin." Das ist absoluter Zynismus. Eine Selbstherrlichkeit, ein Zynismus, der die Menschen gegen eine Wand laufen lässt. Und gleichzeitig ist dies hoch interessant, weil daher das Bilderverbot kommt. Es hat mich immer sehr beschäftigt, gerade dagegen zu arbeiten, mit diesem Verbot zu arbeiten, in dieser Abstraktion zu arbeiten. Ich habe in meiner Kindheit die katholische Religion als eine absolute Bedrohung erlebt, als eine Androhung und Bedrohung der Vernichtung und der ewigen Hölle. Gott war ein drohender Gott.

Was glauben Sie, warum Sie geboren worden sind?

Kiefer:

Das ist die Hauptfrage - ich weiß es nicht. Das ist unsere Verzweiflung, dass wir es nicht wissen. Wir haben ein Bewusstsein, wir können denken, wir können so viel erkennen, wir können es ausdrücken - wir wissen nicht warum. Es ist ein Abgrund, der sich da auftut. Es ist ein unvorstellbar tiefer Schwindel-Abgrund. Ich habe keine Antwort. Ich kann nicht sagen warum. Es erscheint mir interessant genug zu sein weiter zu machen, aber eine Antwort kann ich nicht geben. Ich habe absolut keine Antwort.

Wie halten Sie das aus?

Kiefer:

Ja, schwierig (lacht), indem ich meine eigene Welt mache. Ich schaffe meinen Raum im Nichts. Aber es ist alles eine Illusion.

Ihr Familienname steht in der Verbindung mit der Natur. In japanischen Gedichten wird die Kiefer als ein Baum gesehen, dem eine sehr lange Dauer beschieden ist. Ein anonymes Zen-Gedicht lautet: "Die Kiefer lebt tausend Jahre lang,/ Die zarten Winde des Morgens nur einen Tag./ Doch ihre Bestimmung erfüllen beide."

Kiefer:

Ich hoffe, es auf 100 Jahre zu bringen. Über meinen Namen habe ich nicht nachgedacht.

Haben Sie nie gedacht, dass Ihr Vorname ein schöner Name ist?

Kiefer:

Das ist ein schöner Name. Als ich mir bewusst wurde, was ich für einen Namen habe, dachte ich eher an die gesamte Familie Feuerbach, den Philosophen, den Künstler, den Historiker, den Archäologen. Diese Familie hat sehr viele wichtige Künstler und Wissenschaftler hervor gebracht, den Religionskritiker Ludwig Feuerbach. Und es gibt auch einen bekannten Juristen Feuerbach. Die Feuerbachs haben das gesamte Spektrum der Wissenschaft und der Kunst abgedeckt, und viele von den Feuerbachs hießen Anselm. Der eine, nach dem ich benannt bin, war der klassizistische Maler.

Wie entsteht das Geheimnis?

Kiefer:

Das Geheimnis ist etwas, was der Künstler den Dingen beibringt. Ein Baum oder ein Wald sind zunächst einmal ein Baum oder ein Wald. Aber wenn die Erkenntnis kommt und mir sagt, warum es da ist, oder das Bild sagt es mir, so ist der Baum damit vergeheimnist. Novalis hat das Wort "vergeheimnissen" geprägt.

Das Geheimnis hat in Ihrem Schaffen eine enthüllende Bedeutung.

Kiefer:

Ja, wenn man es in der Bedeutung von Sinn nimmt, hat es eine enthüllende Funktion. Sinn meine ich immer nur als illusorischen Sinn. Ein Geheimnis ist etwas Verhülltes. Ich enthülle damit nicht das Geheimnis. Ich schaffe das Geheimnis.

Und woraus?

Kiefer:

Nicht aus dem Nichts.

Aus dem leeren Raum?

Kiefer:

Ja, auch aus der Materie. Die Materie hat auch ein Geheimnis. Ich glaube nicht, dass das Geheimnis oben und die Materie unten ist, und die Idee gibt dem Ding erst das Leben. Ich meine, dass die Idee im Ding steckt. Das Geheimnis ist schon in den Dingen enthalten.

Wäre Ihre Arbeit ein In-die-Materie-Gehen?

Kiefer:

Ein-die-Materie-Öffnen, ein Entkleiden der Materie. Man kann vielleicht sagen: Ich vergeheimnisse die Materie, indem ich sie entkleide. Die Bundeslade ist das Geheimnis schlechthin. Es fängt schon mit dem brennenden Dornbusch an: Ich bin, der ich bin. Die Bundeslade ist das materialisierte Geheimnis.

Der brennende Dornbusch - in Ihrem Atelier habe ich Feuerflammen auf Ästen von schwarzen Bäumen gesehen.

Kiefer:

Der Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt. Bei mir brennt der Fels.

Selbst die petrifizierte Form der Materie brennt.

Kiefer:

Stein selbst brennt. Das haben die Romantiker dargestellt: Den Unterschied zwischen belebten und unbelebten Gegenständen lösten die Romantiker auf. Zumindest Adalbert Stifter. Er hat Gegenstände, Bäume, Steine so beschrieben, als wären sie lebendige Dinge. Und menschliche Beziehungen hat er so beschrieben, als ob sie tot wären, als wären sie Stein. Stifter hat den mühelosen Übergang vom Unbelebten zum Belebten beschrieben. Er hat das Belebte zum Unbelebten erklärt, und das Unbelebte zum Belebten. Das ist das Interessante bei Stifter, er ist ja kein Biedermeier-Dichter, wie viele meine. Er geht viel tiefer.

Diese Empfindung habe ich bei Ihren Gemälden auch: Sand, Asche, Stein sind Leben.

Kiefer:

Ja, richtig. Es ist einfach limitiert, wenn man denkt, nur was lebt, lebt. Ein Stein lebt auch. Das habe ich vor allem bei Stifter gefunden. Deswegen hat mich Stifter immer fasziniert, entgegen jeder Meinung, er sei ein Biedermeier-Dichter und unlesbar. Stifter hat den Dingen den Wert gegeben. Das verstehe ich darunter, dass ich den Geist in der Materie entdecke. Diesen Gedanken sehe ich vor allem bei Stifter. Insofern kann man sagen, Stifter war ein Romantiker im philosophischen Sinn, nicht im Biedermeier-Sinn.

Sie haben eine besondere Affinität zu Gebirgen im Salzburger Land.

Kiefer:

Ich war immer fasziniert von Felsen. Es gibt, glaube ich, in Hans Henny Jahnns Roman-Trilogie "Fluss ohne Ufer" Passagen, in denen er auf mehreren Seiten einen Gang durch eine Felsenlandschaft beschreibt. Das ist fast wie bei Stifter, der das anders beschreibt. Diese Leidenschaft, die sich in Jahnn für diese Felsen entzündet, als ob sie leben würden. Die Felsen-Gemälde sind neue Anfänge. Zum Teil haben Sie Flügel und fliegen weg, oder es kommt Feuer aus ihnen.

Die Übergänge von einem Seinszustand in einen anderen finde ich zentral in Ihrer Arbeit.

Kiefer:

Die ständige Umwandlung von allem beschäftigt mich. Am augenfälligsten bei Gebirgen, aber das ist die banalste Erscheinung, wenn ein Gebirge abgetragen und ins Meer getragen wird. Aber es gibt die Umwandlung auch auf ganz anderen Ebenen, bei Photonen, die von der Sonne ankommen, die Lichtstrahlen, die sich in Wärme verwandeln, die Lichtpunkte, die Wellen.

Sich dem Prozess der Verwandlung anheim zu geben - Sehen Sie so Ihre Arbeit?

Kiefer:

Das ist, wenn man so will, meine Art von Mimesis. Mimesis nicht als Art Nachahmung eines Gesichts oder eines Gegenstands, sondern Mimesis als Nachahmung dessen, was ich als Grundbewegung der Welt sehe.