Marc Brandenburg in Berlin Erinnerungen an kollektive Trance
Text
Daniel Völzke
Marc Brandenburgs Zeichnungen sind ein schockgefrorenes Panorama der kollektiven Trance. Es ist ein seltsames Gefühl, diese Arbeiten nun nach über einem Jahr im Coronastillstand wiederzusehen: Szenen im Park, im Nachtleben, in der schwulen und linken Subkultur, Freunde, Demonstrationszüge, Fußballfans, Obdachlosen-Schlafstätten, Durchgeknallte, Rummelplätze, Spielzeug, Mode-Accessoires – all diese beiläufigen, unspektakulären Sensationen des für uns zur Zeit nur langsam wiederkehrenden Alltags. Die Nähe, die Massen, die Einsamkeit in leeren Interieurs, die Masken, bevor es eine Maskenpflicht gab, alles wirkt in der aktuellen Ausstellung "Hirnsturm II" im Berliner PalaisPopoulaire durch den Corona-Filter so ganz neu und fremd und tatsächlich wie eine Verwirbelung aus Erinnerungen.
Marc Brandenburg fotografiert seit Jahrzehnten Großstadtszenen und verwandelt sie mit nüchterner Prägnanz in schwarz-weiße, fotorealistische Bleistiftzeichnungen – als würde der Lärm, der einem aus den Bildern entgegenbrüllen müsste, durch das Papier gedämpft. Das konzentrierte Abzeichnen fotografischer Vorlagen hat für ihn etwas von einer Bändigung.
Im PalaisPopulaire kann man gut die Entwicklung zu dieser Meisterschaft nachvollziehen. In einer Art Vorraum, der wie ein Opener zum tatsächlichen "Hirnsturm" im folgenden Raum funktioniert, sind einige frühe Zeichnungen zu sehen: Brandenburg porträtiert in den 1990er-Jahren den Freundeskreis, noch tastend, frei und spielerisch. So sind die Figuren etwa umrankt durch ein lockiges Gekritzel. Die Strenge kommt später, und auch die wichtigste methodische Errungenschaft des Künstlers: Er fängt irgendwann an, eigene und fremde Fotografien mittels Fotokopierer ins Negative zu kehren – dunkel wird hell, hell wird dunkel. Alles erhält durch diese Invertierung einen stählernen Charakter, selbst das, was wir als unmittelbar und authentisch erleben: die Blätter der Bäume, Wiesen, Körper, Haut.
Allumfassende, bleierne Nacht
Zusätzlich verfremdet Brandenburg seine fotografischen Vorlagen auch mit dem Computer, zieht Schlieren über Gegenstände und Figuren oder verzerrt sie ganz und gar. In dieser umgestülpten Welt werden aus mitteleuropäischen Stadträumen verstrahlte Halden, aus Menschen Schießbudenfiguren. Verstärkt wird dieser Effekt durch die Inszenierung der Blätter im Schwarzlicht: Im zweiten Raum im PalaisPopoulaire entfaltet sich das ganze Panorama in enger Hängung, wodurch die Betrachtung der Zeichnungen ein filmisches Moment bekommt. Brandenburg entwirft hier ein totalitäres, manieristisch verzerrtes Antiwunderland des Kapitalismus: ein Rummelreich vulgarisierter Pseudofeste und karnevalesker Protestmärsche. In dieser Grafitwelt herrscht eine allumfassende, bleierne Nacht.
Es ist eine Freude, das alles nun wiederzusehen, in dieser ersten Einzelausstellung des Künstlers in seiner Heimatstadt Berlin seit über zehn Jahren. Brandenburg hat die Subkultur dieser Stadt mitgeprägt, als die Mark Brandenburg für Westberliner eine Wüste fern jeder Vorstellung war, als man sich von diesem weißen Flecken auf der Landkarte noch zu einem Künstlernamen anregen lassen konnte. Ende der 1970er-Jahre schlug Punk in der Frontstadt auf, der 14-Jährige trug einen Schottenrock, trieb sich im Zentrum der Bewegung rum, im Kreuzberger Club SO36, und war mit jener Ratten-Jenny befreundet, die irgendwann Martin Kippenberger ins Krankenhaus prügelte. Marc Brandenburg wohnte mit Christiane F., dem mittlerweile auf Amazon gefeierten Kind vom Bahnhof Zoo, in einer WG, spielte in Undergroundfilmen mit und arbeitete als Modedesigner. Als Türsteher hielt er vor dem Dschungel, Westberlins legendärster Club der 1980er-Jahre, die Wartenden in Schach. In den 1990er- und 2000er-Jahren entwarf er Flyer für Partys und Clubs, etwa für das Ostgut und das Berghain.
Immer wieder sei die Negativumkehrung von Schwarz und Weiß in seinen Bildern als subversiver Kommentar zu seiner Hautfarbe und zum Rassismus in Deutschland verstanden worden, erzählte er einmal im Interview mit Monopol. "Das wäre wohl niemandem in den Sinn gekommen, wenn ich weiß wäre." Politisch sei seine Kunst höchstens in dem Sinne, dass "alles, was ich in meinen Zeichnungen wiedergebe, durch die Sicht einer Person gefiltert ist, für die die Gesellschaft eine Außenseiterposition vorgesehen hat."